Gudrun Mittermeier
Als Gudrun Mittermeier mit den Aufnahmen zu ihrem neuen Album begann, war ihr eines bewusst: Es war Zeit für etwas Neues. Drei Alben lang hatte die Münchnerin unter dem Namen Somersault englischsprachigen Songwriter-Pop veröffentlicht, dessen ätherische Melancholie und sensible Poesie tief berührte. Doch nun wollte Mittermeier neue Wege gehen – und fand in dem Produzenten-Team Udo Rinklin und Frank Pilsl (Philipp Poisel, Die Happy, Max Herre, Tonbandgerät) genau das richtige Gegenüber.
Gemeinsam mit Rinklin und Pilsl begab sich Mittermeier auf die Reise in ein klangliches Abenteuer. „Wir haben uns alles erlaubt und alles getraut und plötzlich waren da diese riesigen Playbacks mit großen Chören und Hallräumen – da war gleichzeitig etwas Dunkles und etwas Federleichtes in den Liedern“, beschreibt Mittermeier, „für mich war das wie ein anderer Raum, zu dem wir die Tür aufgeschlossen hatten.“ Weil plötzlich alles möglich schien, sang Mittermeier am letzten Aufnahmetag eines der Lieder nicht auf englisch, sondern im Dialekt ihrer Kindheit und Jugend – auf Bayrisch. „Als diese fast vergessenen Worte aus mir herauskamen, war mir klar, dass hier etwas für mich durchaus Dramatisches geschah. Ich wollte dieser Herausforderung nicht aus dem Weg gehen.“ Nach nur sechs Wochen hatte Mittermeier das ganze Album neu getextet und aufgenommen.
Der zufällige Durchbruch führt zu einem Album, das nichts weniger ist als ein kleines Wunder. Mittermeiers Originaltöne bringen den ohnehin schon dunklen Liedern etwas Rauschhaftes, Unheilvolles bei. Etwa bei dem Opener „Schwarz“, bei dem Mittermeier die frühen Coldplay mit der Schmerzfeen-Musik von Soap & Skin und Daughter verbindet. Ein sich wiegendes Klavier geht im bodenlosen Schlund unter, Mittermeier lockt mit gefährlicher Sanftheit. Das Lied ist ein Sog – und eine Art musikalischer Heimatfilm 2.0, der die morbide Bergkulisse mit dem Inneren der Künstlerin vertauscht.
Dagegen haben andere Kompositionen etwas Schwebendes, Schwereloses. Zum Beispiel das
faszinierende „Leicht wean“, dessen Jazz-Pop-Harmonien (Burt-Bacharach-Trompeten inklusive!) eine ganz zauberhafte Freundlichkeit ausstrahlen. Es liegt ein tiefer Trost in der Intimität, doch trotzdem ist der Leichtigkeit nicht ganz zu trauen; in Mittermeiers Flüstern liegt, so scheint es, ein kleines bisschen Sterben. Man versteht, um was es geht – auch wenn man kein Bayrisch spricht.
Aber geht das eigentlich – Popmusik in bayrischem Dialekt, die nichts gemein hat mit Alpenländle-Idyll? Es geht, weil Gudrun Mittermeier mit dem Rückgriff auf ihre erste Sprache eine enorme Authentizität gelingt – am Ende der zwölf Lieder hat man den Eindruck, die Künstlerin wirklich gesehen und auf ihrem Weg heimwärts begleitet zu haben. Zudem ist der Dialekt hier genauso Lautmalerei wie Vokabel; er bringt „Mitternach“ eine ganz eigene Ästhetik und Intimität bei. Dazu ist dieses Album ein Werk der 1000 Farben, eines, das in der Tiefe untergeht und sich in lichten Höhen fast aufzulösen scheint. Mittermeier und ihre Produzenten lassen sich von der Musik führen und sind immer auf der Hut, wohin sie will und um was es ihr geht. „Ich finde nichts schlimmer, als an der Oberfläche zu bleiben“, erklärt Mittermeier, „lieber gehe ich bei dem Versuch unter, den Dingen auf den Grund zugehen, als sie zu verleugnen.“
Gudrun Mittermeier, die ihre Musik ab jetzt unter ihrem eigenen Namen veröffentlicht, hat ihr Album „Mitternach“ nach dem Geburtsort ihrer verstorbenen Mutter benannt, einem kleinen Dorf in Niederbayern. Zurück nach vorn: Der Weg in die Zukunft führt konsequent in die Vergangenheit, die künstlerische Weiterentwicklung ist ein Salto rückwärts. Hoam, wo die Ursprünge liegen. „Manchmal muss man mittenrein ins Ungewisse“, erklärt Mittermeier, „dahin, wo es so hell ist und dunkel, wo man fliegt und untergeht – und wo’s weh tut. Mit dem Album kehre ich zurück nach Haus – aber ich bin nicht mehr die, die ich mal war.“