Sophia
Sophia: Da klingelt es beim Fachmann für brutal elegante und tiefschürfende Indiemusik in den Ohren. Und selbst bei jenen irgendwie im Hinterkopf, die etwas weniger bewandert sind in den Platten, die man abseits der ewig gleichen Nennungen, was „man“ doch bitteschön kennen sollte aus dem Indie der letzten 20 Jahre. Man muss auch nicht zwingend sofort wieder Bescheid wissen, denn das letzte Sophia-Album ist sieben Jahre her. Aber wer das Folgende liest, dürfte sich erinnern. An Robin Proper-Sheppard, letztlich dem einen konstanten Menschen hinter Sophia, der bereits in den frühen 90ern für große, wenngleich damals gänzlich andere Töne sorgte als festes Mitglied der von Eingeweihten bis heute kultisch verehrten The God Machine. Nach dem Tod ihres Bassisten Jimmy Fernandez löste sich die aus den USA stammende, aber in London lebende Band auf. Proper-Sheppard gründete Sophia – und überzog die Musikwelt fortan mit Alben, die in ihrer unglaublich wohltönenden Melancholie – in vielen Fällen wohl doch eher: Schwermut –, die sich mit hymnischen Melodien und nachdenklichen Texten paarte, eine neue Intensität im Zusammenspiel aus Songwriting, Lyrics und geschmackvollem Arrangement erzeugte. Sophia waren seither nie eine Band für die Massen, dafür ist Proper-Sheppards Tun dann vielleicht soch etwas zu tiefschürfend und komplex. Aber sie sammelten eine weltweite Fangemeinde ein, die jedes neue Werk mit fast hysterischer Hingabe viele Hundert Male auf den heimischen Plattenteller legte. Denn Sophia-Musik ist eben das, was man klassisch einen „Grower“ nennt: Sie wächst und wächst mit jedem Durchgang. Leidhören ist hingegen nahezu ausgeschlossen.
Das bringt uns in die Gegenwart. Es existieren zwei Gesichter, zwei Seiten von Robin Proper-Sheppard, die fast ambivalent zueinander diskutiert werden können: Da ist einerseits der Musiker, der sein Innerstes auf den Tisch legt, es in wohl gesetzten Worten ausbreitet und durchdrungen ist von einer Melancholie und Traurigkeit, die jedes neue Sophia-Album zu einem Ereignis der dunklen Emotionen macht. Und da ist andererseits der Mensch, der viel lacht, fröhlich ist und selbst von den größten Rückschlägen in einer selbstironischen Leichtigkeit erzählt, als seien es kleine Zwischenfälle auf dem Weg des Lebens. Vertrauen kann man beiden Versionen dieses außergewöhnlichen Songwriters und Sängers, denn sie sind beide wahrhaftig und im höchsten Maße authentisch. Und doch bringt man sie im ersten Moment nur schwer zusammen.
Dies gilt umso mehr, wenn man sich die bisherige Diskografie von Sophia anschaut. Proper-Sheppard ist ein Mann, der zu großer Liebe fähig ist, und dies umso mehr im Privaten. Doch eine solch große Liebe gebiert im Umkehrschluss auch entsprechend große Dramen und Zerwürfnisse, wenn sie erlischt – und dies war, mal mehr, mal weniger eindeutig, stets auch das Oberthema der fünf bisherigen Sophia-Alben. Es ging dabei nicht immer nur um die Liebe zu einem Lebenspartner, sondern auch um jene zu Freunden oder einem sozialen Umfeld – sowie, wie etwa auf dem 2006er-Album „Technology Won't Save Us“, um das Vakuum, das für das Individuum entsteht, das an die Stelle von wahren Emotionen jene setzt, die sich in sozialen Netzwerken substituieren lassen. All diese Gedanken und Betrachtungen rührten stets aus einem persönlichen Erleben von Proper-Sheppard, und sie gipfelten in dem bislang wohl traurigsten, letzten Sophia-Album „There Are No Goodbyes“, das vor mittlerweile eben sieben Jahren erschien.
Dass danach eine derart lange Stille eintrat, hatte vor allem einen Grund: „Ich hatte mir nach den schmerzvollen Erfahrungen rund um die letzte Platte, die auch davon begleitet wurden, diese Songs im Anschluss jeden Abend live zu performen, eines geschworen: Ich möchte nie wieder eine Trennungsplatte machen. Ich war dem Thema mit 'There Are No Goodbyes' so nahe wie möglich gekommen, ich hatte alles darüber gesagt. Und es war auch ein Stück weit Selbstschutz, denn letztlich möchte ich nicht als der Musiker bekannt sein, der immer nur dann eine Platte aufnimmt, wenn er eine schwere Trennung verarbeiten muss. Das alles war so allerdings nie geplant, es war eher eine Folge meiner Lebensumstände – zumal ich prinzipiell nichts plane, was mit Musik und ihrer Entstehung zu tun hat. Aber trotzdem wollte ich herauskommen aus diesem Kreislauf, bei dem sich so ziemlich jeder Song, den ich schreibe, mit der Aufarbeitung meiner persönlichen Beziehungen auseinander setzt“, erzählt er.
Nun ist es so: Ein Musiker, der seine kreative Energie schon immer aus den eher dunklen und traurigen Seiten des Daseins schöpft – ob nun früher angriffslustig, ja konfrontativ und voller Zorn wie bei The God Machine, oder seit 1996 in schönster Indie-Tradition mit Sophia – der wird nicht plötzlich zu einem, der leichte Songs für 'shiny happy people' schreibt. Mehr noch: „Ich musste über die letzten Jahre entdecken, dass ich einfach nur dann wirklich gute Songs schreibe, wenn ich mich über das Dunkle und Melancholische einem Thema nähere“, sagt er. „Die Leichtigkeit, wertvolle Musik zu komponieren, wenn es mir rundum gut geht und mich nichts bedrückt – sie scheint mir einfach nicht zu liegen. Denn es steckt dann in meiner Komposition einfach nicht genügend Existenzielles. Und existenziell sollte es sein, was ich veröffentliche.“
Überprüft hat Proper-Sheppard diese Erkenntnis mehr als ausreichend; denn es ist nicht so, dass er in den sieben Jahren seit dem letzten Sophia-Album untätig gewesen wäre. Neben seiner Leidenschaft für das Produzieren guter Nachwuchs-Bands, die ihm gefallen, sowie einem Projekt für seine treuesten Fans, für die er auf seiner Akustik-Tournee im Anschluss an das letzte Album ein eigene Platte mit Livesongs zusammenstellte, deren Trackauswahl auf Basis einer Umfrage geschah, tat er über die vergangenen Jahre vor allem eines: Songs schreiben. „Ich dürfte gegenwärtig über 50 Songs so weit haben, dass man sie eigentlich fertigstellen und auf ein Album packen könnte“, erzählt er. „Das Schöne an diesen Songs ist, dass sie unter einem anderen Gesichtspunkt entstanden: Sie dienten keinem konkreten Zweck – also etwa als Teil einer kommenden Platte – sondern sie entstanden, weil ich ein Thema hatte, das mich ausreichend intensiv beschäftigt hat, sodass ich etwas darüber schreiben wollte.“
Wie schon bei allen anderen Sophia-Alben, sind es Themen aus Robins Leben, nur eben diesmal andere als die Frage nach der Verarbeitung gescheiterter Beziehungen. Es sind Momentaufnahmen aus dem Erleben Proper-Shepards innerhalb der zurückligenden Jahre. Etwa, als er aufgrund (unzutreffender) behördlicher Fristbegrenzungen seiner Aufenthaltsgenehmigung für Europa wieder einmal zurück in seine kalifornische Heimat reisen musste und die Region nach all den Jahren mit ganz anderen Augen wahrnahm – nachzuhören im berührenden „California“. Oder, als er nach seinen Jahren in England vor einiger Zeit nach Belgien zog, sich neu sortierte und letztlich feststellte, dass der Denker und Empfinder in ihm stets der gleiche bleibt, ungeachtet der Umgebung – wie man in „The Drifter“ erfährt. „Blame“ wiederum setzt sich mit der Frage auseinander, wie leicht es ist, anderen eine Schuld zuzuweisen, wenn es zwischenmenschlich nicht funktioniert – so viel einfacher jedenfalls, als den Fehler bei sich selber zu suchen; und was geschieht, wenn man es dann doch tut. Über 50 neue Songs, die wirken wie poetische Tagebucheinträge, wie kleine Essays über das eigene Leben, gegossen in diese atemberaubend intensiven Sophia-Songkleinode.
Rund ein Fünftel dieser neuen Songs findet sich nun auf Sophias Album „As We Make Our Way (Unknown Harbours)“. Bei einigen von ihnen können wir uns glücklich schätzen, dass man sie nun zu hören bekommt, denn Proper-Shepard gesteht: „Durch die veränderte Grundlage und die ungewohnten inhaltlichen Ansätze blieb ich bei der Kreation vieler Songs oft stecken – ich war mir unsicher, ob etwas wirklich taugt oder letztlich nur eine Skizze zu einem neuen Ansatz ist, der erst weiter ausformuliert werden muss. Es war dann oft mein Drummer Jeff (Townsin), der mich ermunterte, weiter zu machen. Ohne seine regelmäßigen Bemerkungen, dass ihm dies oder jenes sehr gut gefällt, Substanz und Qualität besitzt, hätte ich sicher häufiger aufgegeben. Und ohne ihn hätte ich vielleicht auch noch länger kein neues Album fertiggestellt.“
Und dies tatsächlich buchstäblich. Denn Sophia, sonst meist als eine Formation aus drei festen Begleitmusikern geführt, bestand im Studio bei den Aufnahmen zu dieser Platte letztlich aus Townsin und Proper-Sheppard, der einen Großteil der Instrumente selber einspielte und Klangschicht auf Klangschicht legte. Lediglich in Soundfragen holte er sich etwas Unterstützung, und dies aus einer für ihn neuen Quelle: Der nunmehr in Brüssel glücklich Verortete entdeckte an einem Musik-Konservatorium der belgischen Hauptstadt einen Studienzweig, der sich vornehmlich mit Sounddesign beschäftigt. Von den Studenten dieses Zweigs ließ er sich vieles erklären, borgte sich Musiker und ihre Instrumente, diskutierte über Klänge und ihre Wirkung. Und integrierte vieles davon auch in die neuen Songs. Auch deshalb klingt „As We Make Our Way (Unknown Harbours)“ - auch wenn es in jedem Moment voll und ganz ein Sophia-Album ist – in zahlreichen Nuancen neu, anders, frisch und etwas ungewohnt. Manche Klänge sind futuristisch, andere betont retro und damit unverfroren anders im sonst so hypereleganten Sophia-Klangbild.
„Ich bin zwar kein ausgewiesener Sound-Nerd“, erzählt Proper-Sheppard, „aber gleichzeitig schon enorm interessiert an den Möglichkeiten und Effekten, die prägnante Klänge auf einen Hörer haben können. Ein treffender Sound kann ebenso viel beim Hörer auslösen wie eine gut geschriebene Melodie. Darüber habe ich in den letzten Jahren viel gelernt, und ich setze das gezielt ein. Das alles ist allerdings ebenso wie der kreative Prozess eine rein intuitive Frage. Ich entscheide stets, ob etwas stimmt und passt, nur aus dem Bauch heraus – und dies mit aller Konsequenz.“ So habe er etwa, erzählt er weiter, bereits 2013 mal ein Studio gebucht, um einige Songs aufzunehmen, die für ein künftiges Album taugen könnten. „Daran habe ich mich erst kürzlich erinnert, als ich meine Steuer machen musste und mich fragte, wo eigentlich diese 7.000 Euro geblieben sind, die in meinen Aufzeichnungen fehlten. Bis mir einfiel: Ach ja, du warst ja im Studio. Was dabei entstand, war klanglich so unstimmig, dass ich die kompletten Aufnahmen gleich danach weggeworfen und die gesamte Session aus meinem Gedächtnis gelöscht habe“, lacht er.
Das Lachen des Robin Proper-Sheppard: Es ist ein so herzliches, erfrischendes und lebensbejahendes, dass man sich tatsächlich fragt, wie es zu diesem Mann gehören kann, der sicher zwei Dutzend der schönsten Trennungssongs aller Zeiten verfasst hat. Mit „As We Make Our Way (Unknown Harbours)“, das sowohl vor als auch in der Klammer ein Titel von geradezu selbsterfüllender Prophezeiung ist, kommt man seinem Lachen zumindest ein Stück weit näher. Nein, es ist beileibe noch immer kein fröhliches Sophia-Album, aber zumindest eines voller vorsichtiger Hoffnung und optimistischer Herzenswärme. Bis hin zum letzten Song dieses Werks, für Proper-Shepard einer der wichtigsten seiner Karriere, weil er letztlich eine Art Zusammenfassung und Abschluss darstellt für all die Songs über den Frust der Einsamkeit und die Schwere zerbrochenener Beziehungen: „It's Easy To Be Lonely“ heißt er und ist zumindest für Robins Verhältnisse ein regelrechtes Manifest an die Zweisamkeit und die Kraft, die daraus erwächst, sich in die Reibung mit anderen Menschen zu begeben. Dafür ist er mit diesem Album gerüstet. Und wir folgen ihm gern auf seinem neuen, behutsam positiv gefärbten Weg. Ist diese Platte damit also eine Zusammenfassung von nunmehr 20 Sophia-Jahren? Robin überlegt kurz und sagt: „So habe ich das noch nie betrachtet. Aber ja, auf einer unterbewussten Ebene könnte das absolut stimmen.“ Ein Ende also? Nein, vielmehr ein neuer Anfang.