23.10.2009
Marius Müller-Westernhagen: Williamsburg
„Ich wollte nie mehr als der Sänger in einer Band sein.“
– Marius Müller-Westernhagen
Manchmal mutet es schon etwas merkwürdig an, das ausgerechnet Musik als etwas, das uns zu den intensivsten und erinnerungsträchtigsten Gefühlen verführen kann, immer mehr an Bedeutung zu verlieren scheint. Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Musik ist zunehmend Mittel zum Zweck, Klangtapete, Hintergrundrauschen oder eine leicht zu verkonsumierende Datei auf einem digitalen Zwischenspeicher. Ihre Präsenz hat sich stetig vergrößert und ihr Wert hat im gleichen Zeitraum abgenommen. Dasselbe gilt für etliche ihrer Interpreten. Berühmtheit kann offenbar ein Selbstzweck werden, Worte wie „Superstar“ haben eine Inflation erlebt, die den Begriff praktisch bedeutungslos macht, und um von der Masse wahrgenommen zu werden, braucht man im Zweifel nicht mehr den richtigen Song sondern die richtige Marketingkampagne.
Marius Müller-Westernhagen hat seine Karriere zu einem Zeitpunkt begonnen, als all das noch nicht abzusehen war. Als man noch den Fußweg nehmen musste von den musikalischen Wurzeln bis zur großen Bühne, und als man hinter jedem Star noch erkennen konnte, weshalb er ein Star war. Schließlich hat Rockmusik trotz allem, was die einschlägigen Fernsehformate vermitteln, erstaunlich wenig mit Demokratie zu tun und dafür umso mehr mit künstlerischer Vision und dem Willen, dafür eigene Wege einzuschlagen. „Auch Rockmusik ist eine Kunstform, und das ist vergessen worden,“ sagt Müller-Westernhagen, „Als ich groß geworden bin, war Bob Dylan populäre Musik und Leute wie James Brown oder Jimi Hendrix. Alle drei sicherlich auch Menschen mit Starqualitäten, aber woran man sich bei ihnen wirklich erinnert sind ihre Songs.“
In seiner mehr als dreißigjährigen Musikerlaufbahn hat Marius Müller-Westernhagen selber so ziemlich jeden Erfolg feiern können, mit dem man Popularität nur messen kann, aber auch bei ihm sind weniger die beeindruckenden Plattenverkäufe und die extravaganten Stadiontourneen in Erinnerung geblieben, sondern wiederum die Songs. „Die meisten meiner so genannten Hits waren in dem Sinne eigentlich gar keine Hits, als dass sie zum Teil nicht einmal auf Single erschienen sind oder sich in den Top Ten der Single-Charts etablieren konnten,“ sagt er. „Aber die Leute kennen sie, weil sie das dazugehörige Album oft genug gehört haben und sie anscheinend irgendwann der Soundtrack zu ihrem Leben geworden sind. Und das ist für einen Songschreiber weitaus befriedigender als irgendwelche Preisverleihungen.“
Auf Marius Müller-Westernhagens neuer LP steht deshalb auch wieder jene Authentizität im Vordergrund, die den Künstler überhaupt erst zu dem gemacht hat, was er bis heute ist: der Mann mit der Stimme, der Mann mit den Geschichten und der Mann mit dem entsprechenden Arbeitsethos. „Williamsburg“ ist das klassische Album eines klassischen Interpreten, der sich in erster Linie als Musiker und Künstler versteht und nicht als Dienstleister im Auftrag der Entertainment-Branche. Es sind zwölf Songs in der richtigen Reihenfolge, in der richtigen Lautstärke, die den richtigen Ton treffen. Es ist ein Album voller Blues und Soul, das swingt, ein Rock-Album, das Tango tanzt. Das wuchtig klingt wie eine Jam-Session in einer brennenden Scheune und sich dabei so lässig anfühlt wie der Regenguss danach.
„Ich verspüre keinen Druck mehr,“ sagt Müller-Westernhagen über die Stimmung, in der die Platte entstand. „Für „Williamsburg“ konnte ich das tun, was ich am liebsten mache: In Ruhe meine Arbeit. Ich werde wohl bis an mein Lebensende Platten aufnehmen, denn darauf könnte ich nicht verzichten. Dazu liebe ich es einfach viel zu sehr.“ In der Tat. Ohne die Hektik, die das Leben im Scheinwerferlicht mit sich bringt, gönnte er sich im letzten Frühling einen Blick über den deutschen Tellerrand, der gleich bis ans andere Atlantikufer reichte. Marius Müller-Westernhagens musikalische Sozialisation hatte sich eh hauptsächlich über vinylgewordene Importartikel aus den USA abgespielt, und die Gelegenheit ein Album in New York einzuspielen war entsprechend unwiderstehlich.
„Ich würde dort jederzeit wieder hingehen,“ sagt er über den Ort, der seiner neuen Platte den Titel gab. Williamsburg ist ein freundliches Stadtviertel New Yorks am Ufer des East River direkt gegenüber von Manhattan, das mit seinem gemächlicheren Alltag den etwas beschaulicheren Gegenpol zur pulsierenden Metropole darstellt. „Sobald man über die Brücke fährt, merkt man, wie die Energie von Manhattan runtergeht. Es ist beinahe ein wenig kleinbürgerlich,“ findet der Sänger. Die Ortsbezeichnung Williamsburg selbst hatte es ihm jedoch angetan, weil man es genau wie die von deutschen Einwanderern geprägte Nachbarschaft gleichzeitig mit Vertrautheit und Abenteuer assoziiert. Müller-Westernhagen fand außerdem eine Atmosphäre vor, die ideal zu seinem Anspruch ans Musikmachen passte. „Das Studio roch nicht nach Industrie,“ sagt er, „aber es war geprägt von dieser typisch amerikanischen Professionalität, die nichts Prätentiöses hat.“
Der Singer-Songswriter, der seit über zwanzig Jahren mit der in New York geborenen und aufgewachsenen Afro-Amerikanerin Romney verheiratet ist, gibt zu Protokoll, nichtsdestotrotz von der amerikanischen Unvoreingenommenheit überrascht gewesen zu sein, vor allem im Kontrast zu den teilweise starren Strukturen in Deutschland. Wo es hierzulande allzu oft Vorbehalte gegen Künstler gibt, die sich in neuen Stilrichtungen versuchen, trifft dieselbe Idee in den USA erst einmal auf offene Ohren. „Es war vom ersten Tag an eine Gemeinschaft da und eine Intensität, die ich nicht voraussetzen konnte. Die Musiker, die ich außer Andy Newmark nur von CDs oder als Fan vor der Bühne kannte, gaben mir von Anfang an das Gefühl ein Mitglied der Gang zu sein. Mehr noch: ich hatte den Eindruck, dass sie mich für den Zeitraum der Zusammenarbeit ohne Vorbehalte als Leader Of The Pack akzeptierten und in dieser Eigenschaft respektierten. Diese Aufgeschlossenheit ist etwas, das sich für unser deutsches Nicht-Selbstbewusstsein ganz erstaunlich anfühlt.“
Mitverantwortlich für Müller-Westernhagens Enthusiasmus waren natürlich vor allem die exzeptionellen Fähigkeiten der Band, die er und sein Co-Producer Kevin Bents (auch mit MM-W verantwortlich für die Produktion des Westernhagen-Albums „In den Wahnsinn“) für die Aufnahmesession von Williamsburg gewinnen konnte. Peter Stroud (Guitar), Larry Campbell (Guitar, Pedal Steel, Fiddle), Jack Daley (Bass), Andy Newmark und Shawn Pelton (Drums) wie auch Kevin Bents selbst (Keyboards, Guitar) gehören mit zu America’s finest musicians. Von der Zusammenarbeit mit diesen musikalischen Größen zeigt sich Marius Müller-Westernhagen immer noch merklich und nachhaltig beeindruckt: „Es ist meine Pflicht als Künstler Risiken einzugehen. Dass das ein Drahtseilakt sein würde, war klar – es hätte auch schief gehen können. Aber die Chemie hat gestimmt und ich glaube, ich habe nicht nur Musiker für diese Platte gewinnen können sondern auch neue Freunde.“
Der bloße Studioaufenthalt dauerte gerade mal zwei Wochen, in denen sich die Band allerdings zu einer schlagkräftigen Bruderschaft mit „Gier nach Songs“ verschwor. Marius Müller-Westernhagen wollte, dass die Musiker die Songs nicht nur einfach vom Blatt runterspielten - sie sollten die Freiheit haben, sie für sich zu interpretieren, sowohl Persönlichkeit als auch Seele einzubringen. Dazu musste er sie von seiner Vision überzeugen, mit dem Songmaterial in erster Linie. „Bei Musikern dieser Güteklasse ist das wie mit gestandenen Schauspielern, die ihre Mitarbeit an einem Projekt von der Qualität des Drehbuchs abhängig machen." Dass es mit dem Rocker aus Germany letztendlich tatsächlich auf einen musikalischen Dialog hinauslief, ist dabei einer jener Glücksfälle, der die Summe der einzelnen Teile größer macht und wunderbarerweise trotzdem nicht kalkulierbar. Nachdem sich die Amerikaner die Texte haben übersetzen lassen, entwickelte sich die musikalische Dramaturgie von selbst und die Sessions nahmen das berühmte Eigenleben an. „Es gab kein Ego-Gezicke,“ lacht Westernhagen, dem es instinktiv widerstrebt, Kollegen in ihrem musikalischen Ausdruck zu reglementieren. „Für mich ist das eine große Qualität beim Musizieren - wenn Räume entstehen. Wenn Musik atmen kann. Wenn sie sich in der Improvisation verselbstständigt. Wenn es abhebt.“
Die Spielfreude von „Williamsburg“ und der Biss der praktisch live eingespielten Songs vermitteln sich auch beim Hörer so schnell, dass man denkt, der Sänger habe auf diese Backing-Band nur gewartet. Marius Müller-Westernhagen führt die Musiker durch das klassische Repertoire seines Songwritings, das den transatlantischen Vergleich nicht zu scheuen braucht und die Verwandtschaft mit traditionellen Rock’n’Roll-Roots betont. Dabei verbindet die Platte die Frische einer Spontan-Session mit der Souveränität, mit der wahrscheinlich nur ausgewiesene Könner ihr Handwerk leicht aussehen lassen. „Ein Album ist wie ein Film,“ sagt der Songschreiber über die Wirkung der LP: „Ich habe mich bemüht, Geschichten zu erzählen, die sich auf dem Album dramaturgisch zusammenfügen.“ Und letztendlich sind es diese Geschichten ebenso sehr wie die Melodien, die in Erinnerung bleiben und das Publikum an einen Künstler binden, der ständig neue Herausforderungen sucht und sich dabei trotzdem treu bleibt.
Vielleicht hat Marius Müller-Westernhagen mit dieser Platte seinem Ziel, „der Sänger in einer Band zu sein“ so nahe gekommen wie nie zuvor. Vielleicht liegt es daran, dass diese Band mit den neuen Songs verblüffend intuitiv zu Werke geht, dem erfolgsverwöhnten Musiker Feuer unterm Hintern macht und ihn zu wachsen zwingt. Vielleicht liegt es auch einfach nur daran, dass „Williamsburg“ lebendiger, kantiger und gelegentlich herausfordernder Rock’n’Roll ist in einer Zeit, in der diese Eigenschaften normalerweise wegperfektioniert werden.
Aber wie Westernhagen es ausdrückt: „Es geht nicht um Perfektion, es geht um den Vibe.“