09.11.2018
Put Your Head On My Shoulder
„Wir mussten das kanalisieren.“
Vier Jahre sind seit ihrem leichtfüßigen Indie-Pop Debüt „Hornissen“ vergangen, vier Jahre, in denen sich die Welt tiefgehend geändert hat. Sie ist dunkler geworden, es gibt mehr und mehr Fragen, ohne dass wir Antworten finden. So viel Verwirrung, so viel Ratlosigkeit. „Das sauge auch ich alles ein“, erklärt Tipps für Wilhelm-Frontmann und Songschreiber Guillermo Morales, „und das hat auch die Musik geändert.“ Auf „Put Your Head On My Shoulder“ ist keine Naivität mehr zu spüren, dieses Album schlägt ein völlig neues Kapitel auf. „Es ist dunkler, düsterer geworden. Und das war auch bitter nötig – wir mussten das kanalisieren.“
Doch auch die drei Bandmitglieder selbst haben sich geändert. Guillermo, Bassist Thomas Wosnitza und Schlagzeuger Ruud van der Zalm sind nun alle um die 40 Jahre alt und definitiv erwachsen – auch das hat den Klang beeinflusst. Die gewonnene Reife, die neuen Einsichten, die vielen Erfahrungen in verschiedenen Bands, all das haben sie zu einem ebenso erwachsenen, tiefgehenden und aufregenden Album verwoben. Die neuen Lieder sind deshalb nichts, was man so ohne Weiteres im Radio finden würde. Ihnen ist klar: Das muss man sich erst einmal trauen. Doch sie wollten ihr künstlerisches Statement für nichts antasten: „Jemand schrieb über Tocotronic, dass er sie so toll findet, weil sie immer den schweren Weg gehen. Das war auch unser Antrieb – anders aufzutreten, als man es nach einem ersten Album erwartet.“ Es ist auch kein Zufall, dass sich ein Hamburger Schule-Gefühl durch die Lieder zieht, nicht von ungefähr fühlt man sich z.B. an Kante, irgendwo zwischen „Zombi“ und „Die Tiere sind unruhig“, erinnert. „Im Laufe der letzten Jahre habe ich viel Kante gehört. Auch Blumfeld. Auch Tomte und Kettcar. Diese Einflüsse sind da.“ Passende Referenzen. Die drei ahmen dabei aber nichts und niemanden nach, sondern haben mit selbstbewusster Konsequenz und tiefer Ruhe ein Album für unsere Zeit geschaffen, das unser aller Stimmung spiegelt ohne moralisierend, plakativ oder einfach zu sein. Es geht um unser Unbehagen in einer neuen Gegenwart, und Guillermos Stimme erzählt uns die Geschichten dazu, kleine und große, Schlaglichter des Jetzt, Momente, ein Spektrum der Gefühle. Lieder aus dem Chaos, gegen das allgegenwärtige Tohuwabohu.
„Ich könnte meinen Frieden darin finden, einfach Platten aufzunehmen.“
Guillermo Morales hat schon immer alle bewundert, die eine eigene Band hatten, und als er 2001 nach Berlin zog, begann er seinen Traum zu verwirklichen. „Die Sehnsucht danach, Musik zu machen, war immer da. Ich könnte meinen Frieden darin finden, einfach Platten aufzunehmen. Musik zu schreiben, damit Leute sie hören können. Das würde mir schon genügen.“
Und so findet sich die Band Ende 2013 im Studio von Simon Frontzek wieder, um ihr Debut-Album „Hornissen“ aufzunehmen.
Kurz nach den Aufnahmen ihres Debuts verlässt der Bassist die Band, aber Ersatz ist schnell gefunden und der Musiker Thomas Wosnitza ein wichtiger Teil der Band.
Die Tipps selbst sehen ihr erstes Album „Hornissen“ als das Ergebnis einer Zeit des Findens und Ausprobierens. Es war ein leichtes, wildes Album, man spürte den Hunger und die Freude am Spielen. 2014 und 2015 tourte die Band tüchtig und verkaufte dabei viele Platten vor Ort - es war die beste und direkte Rückmeldung, dass ihre Musik auf Gegenliebe stieß.
Ende 2015 verlassen Keyboarder und Gitarrist aufgrund von Unvereinbarkeit elterlicher Verpflichtungen mit dem Tourleben die Band. Seit 2016 sind "Tipps für Wilhelm" zu dritt und arbeiten seitdem an ihrem zweiten Album. Im November 2018 wird die Band ihr zweites Album „Put Your Head On My Shoulder“ veröffentlichen.
Nichts, was offensichtlich ist.
Viele der neuen Lieder sind abends entstanden, wenn Guillermo sich mit Bierchen und Zigaretten hinsetzte und Themen in sich aufsaugte, Interviews las oder Reportagen auf YouTube sah. Verkatert von diesen Dingen arbeitete er alles auf. Diese Themen gaben die Stimmung für die Musik vor – dann erst folgte der Text. Spät in der Nacht und dann wieder nüchtern suchte er die Worte, um schließlich alles als Demos zuhause aufzunehmen, mit Kopfhörern, Gitarre eingestöpselt, mit sich allein. Erst dann zeigte er die Songs seiner Freundin und der Band.
Denn obwohl Guillermo das universelle Unbehagen des Jetzt in seiner Musik spiegelt, sind es die persönlichen Erfahrungen und Gefühlszustände, die seine Geschichten oder Texte motivieren, ob im ganz Kleinen, Intimen, oder aus der großen Welt. Schwer zu sagen, was davon ausgedacht oder beobachtet ist, was erlebt. Tex von TV Noir meinte zu Guillermo, dass auch er nicht ahnen kann, was davon real ist und was nicht – und wie sehr er das mag. Aber ein paar Hinweise und Erklärungen gibt Guillermo dann doch preis:
Man höre sich zum Beispiel nur ,In den Slums Von Disneyland‘ an, ein Lied, das ungewohnt poetisch und erzählerisch an die Flüchtlingskrise herangeht. „Ich habe es aufgearbeitet, ohne das Thema eins zu eins zu behandeln. Ich habe mir die Geschichte eines Pärchens angeschaut, das über den Balkan nach Deutschland gekommen ist. Es geht darum, wie die beiden zusammenhalten.“
Oder „Die Verwandlung der Susanne O.“, ein verschlungener, fast in Richtung Prog gehender Track: „Meine Freundin heißt Susanne, und ich wollte ihr ein Liebeslied schreiben. Aber keines, das offensichtlich ist. Sondern etwas, das bei ihr Eindruck schindet“, lacht er. „Deshalb handelt das Lied davon, wie sie auf mich wirkt. Wie stark sie ist. Sie verwandelt sich hier in einen Wolf, denn ich wollte etwas schreiben, das abseits einer normalen Ballade ist.“ Nie würde man auf die Idee kommen, hier den Begriff „Liebeslied“ in den Mund zu nehmen.
Ganz anders hingegen „Pepsi und Cola“, ein Lied so wild und energetisch wie eine zu Ende gelebte Nacht in der Großstadt, Indie-Pop, der einfach nur Spaß macht. „Ein Lied, bei dem wir nicht so viel nachdenken. Pepsi und Cola ist da ein Synonym für Bier und nochmal Bier“, lacht er. „Abends ausgehen. Einfach mal entspannt durch die Zeit.“
Oder das so leicht und luftig klingende „1993“, eine Geschichte aus der Vergangenheit, „über einen Freund, der sich damals geoutet hat. Was in der Zeit schwierig war.“ All das und so vieles mehr steckt in „Put Your Head On My Shoulder“, denn obwohl es nur zehn konzentrierte Lieder sind, gibt es vieles zu entdecken.
Trost und Versöhnung
So ist „Put Your Head On My Shoulder“ immer noch Indie Pop und Indie Rock, aber wie von einem ganz anderen Stern. Weit und groß, romantisch und auf warme Art düster, wahnsinnig intim und trotz allem lebenshungrig. Die Texte sind prosaisch, so gut geschrieben wie die besten Kurzgeschichten, die in Klagenfurt gelesen werden. Dieser Gesang will erzählen, er achtet manchmal so gar nicht auf die Melodieführung, er begleitet die Lieder, deren Sog sich parallel entwickelt. Fast wirkt das Album zurückhaltend, doch dann spürt man, wie die Erde beben kann unter der Gitarre und dem Schlagzeug, mit welcher Gewalt die drei ausbrechen können. Trotz dieses Hamburger Schule-Vibes ist diese Musik progressiv und kein Blick zurück, nichts ist hier Zufall. Sie haben keine Angst vor den großen Arrangements, ebenso wenig vor Sentimentalität und Liebe. Das Album ist ehrlich, aber nicht auf eine direkte, beichtende Art, sondern auf eine eindringlich poetische. Es transzendiert, es brennt unter der Haut.
Die Kraft und den Mut, sich in diese Richtung zu bewegen, haben die Musiker aus der kompletten Abgeschiedenheit ihrer Aufnahmesessions gewonnen. Ihre Albumaufnahmen sind nämlich größtenteils in einem entlegenen Landhaus in Meck Pomm entstanden. Völlig losgelöst und bis tief in die Nacht, unter der Anleitung des Produzenten und Bandmitglieds Thomas Wosnitza, hat die Band über Wochen am Soundgewand geschraubt, gedreht, verworfen und immer wieder neu ausprobiert.
Und trotz der dem Album innewohnenden Dunkelheit spürt man am Ende, dass diese Lieder eine ganz andere Funktion haben, etwas, das der Titel schon die ganze Zeit verspricht: „Put Your Head On My Shoulder“ ist ein Paul Anka-Zitat, und sie haben es sehr bewusst gewählt: „Wir wollten einen Titel, der etwas Tröstendes hat. Der sich mit dem Hörer versöhnt.“ Es ist ein Album, das dabei hilft, sich mit der Welt und der Gegenwart zu versöhnen. Diese Lieder werden zu einem Teil Deines Lebens, weil sie auch Deine Stimmung einfangen, Dich spiegeln, Dir dabei helfen, wieder zu spüren. Und dann fühlst Du Dich wie von einer Last befreit. Das Leben geht weiter.