
12.09.2025
The Hidden Cameras: BRONTO
Von der Folk-Gitarre in die Berliner Clubs:
The Hidden Cameras - BRONTO
Mit „BRONTO“ liefert The Hidden Cameras ein Album, das die Grenzen des Pops neu definiert. Joel Gibb, der visionäre Kopf hinter dem legendären Musikprojekt, widmet seiner Wahlheimat Berlin ein eigenwilliges Meta-Dance-Pop-Album - und kollaboriert dazu mit Elektronik-Schwergewichten wie Pet Shop Boys und Vince Clark.
Nachtclubs waren in der Geschichte schwuler Selbstermächtigung immer zentrale Orte des Widerstands und der Community. BRONTO erforscht die schillernden Facetten dieser inhärent queeren Geschichte auf seine ganze eigene Art, zollt den Vorreiter*innen Tribut – und reiht sich rechtmäßig zwischen diesen ein.
Kaum jemand hat das Thema schwule Liebe in den letzten knapp 25 Jahren origineller in Musik übersetzt als Joel Gibb, Mastermind hinter The Hidden Cameras. Das 2001 in Toronto gegründete kollaborative Projekt sprengte mit seiner fluiden Mitgliederstruktur die Grenzen der klassischen Bandformation. Mit seiner „Gay Folk Church Music“ brachte Gibb schwule Themen auf Bühnen – und in Kirchenräume –, lange bevor diese im Pop-Mainstream angekommen waren.
Mit seinem siebten Studioalbum BRONTO tritt Joel Gibb in die Fußstapfen von Pionieren wie Lou Reed und David Bowie und veröffentlicht ein Album das zwar von seiner Wahlheimat Berlin inspiriert wurde, jedoch in München aufgenommen wurde. In Berlin lebt der Kanadier seit über 10 Jahren – und das ist keineswegs spurlos an seinem Sound vorbeigegangen. Nach Folk und Country hat Gibb in Zusammenarbeit mit dem Münchner Produzent Nicolas Sierig (Joasihno) mit BRONTO ein eigenwilliges elektronisches Meta-Dance-Pop Album erschaffen.
Auf BRONTO, was im Griechischen “Donner” bedeutet, legt Gibb die Folk-Gitarre weitestgehend beiseite und nutzt in bester Disco-Tradition das Studio als Instrument, in dem er hochemotionale, schillernde Soundwelten kreiert. Statt hyperreferezieller Sprachakobatik, spielt Gibb auf BRONTO bewusst mit hundertfach gehörten Phrasen & Fragen und schafft es dank seines einzigartigen Zugangs zum Songwriting Geschichten zu erzählen, die weiterhin wunderbar seltsam und berührend zugleich sind.
„Why do you do that, when you say you don’t want me?“ eröffnet Gibb „How do you love?”, die erste Singleauskopplung aus BRONTO. Es ist die Hymne der unerwiderten Liebe. Die schaurig-schönen Streicher Arrangements stammen von dem ursprünglichen Hidden Cameras Violinist Owen Pallett.
Kollaboration stand immer im Zentrum des Projekts. Waren es früher Instrumentalist*innen und Sänger*innen, zählt Gibb heute die Remixer zu seinen musikalischen Mitstreiter*innen. Und welche Schwergewichte er auf BRONTO versammelt!
Die Pet Shop Boys verwandeln „How do you love?” in einen emotionalen Disco-Banger – Streicher-Pads und House-Pianos inklusive. Boys Shorts, die auf den Labels von Jennifer Cardini und Cormac keine Unbekannten sind, unterziehen „How do you love” einer epischen Electro-Pop-Kur. Das spanische Duo Hidrogenesse verwandelt den Song in einen an Hercules and Love Affair erinnernden melodischen House-Track. Die Auswahl kommt nicht von ungefähr: Bei allen handelt es sich um schwule Künstler-Duos unterschiedlicher Generationen, die so in musikalischen Dialog miteinander treten.
Die zweite Single „Undertow“ verarbeitet eine verflossene Liebschaft, bei der einem die titelgebende Strömung unerwartet den Boden unter den Füße wegspült – Seemöwen-Samples und lautmalerisch aufbrandende Synth-Flächen inklusive.
Auch zu Undertow gibt es eine erweiterte Remix-12-Inch. Die britische Musiklegende Vince Clark (Depeche Mode, Yazoo und Erasure) überzieht darauf den Track mit einer glitzernden 80s-Synth-Pop Glasur. Das Berliner Dark-Wave-Duo Local Suicide peitscht „Undertow“ in Richtung EBM..
Joel Gibb probiert auf BRONTO verschiedene musikalische Kostüme an. Auf den Semi-Instrumentalstücken „Full cycle“ und „Wie wild“ kreiert Gibb kleine Filmmusik-Epen, die an Ennio Morricone erinnern. Auf dem dubbigen Downtempo-Synthtrack „I want you“ spielt er mit der wohl meist verwendeten Phrase der Popmusik – Bob Dylan, Marvin Gaye und Depeche Mode lassen grüßen. „Quantify“ ist Gibbs House-Anthem. Mit „You can call“ imaginiert sich Gibb auf die LED-grelle Fernsehbühne des Eurovision-Song-Contest – eine Facette schwuler Kultur, an die sich der Kanadier in Berlin erst gewöhnen musste. Mit diesem inoffiziellen Bewerbungssong könnte Gibb dem deutschen ESC-Team aus der Misere helfen – wer würde da nicht anrufen?
Auf “Brontosaurus law” befreit sich Gibb vom Herzschmerz und findet die Liebe in sich selbst. Doch Gibb wäre nicht Gibb, wenn er diese leicht kitschige Botschaft nicht durch einen röhrenden Dinosaurierschrei am Anfang und eine Anspielung auf den phallischen Hals der Riesenechse humoristisch brechen würde. „State of“ holt das Album endgültig in den Club und wirkt mit den Horn-Fills, Bongo-Grooves und fragmentierten Backing-Vocals wie die Instrumentalversion eines bekannten Disco-Bangers, den man auf dem Dancefloor erfolglos versucht zu shazamen.
Das epische „Don’t tell me that you love me“ bildet den perfekten Closing-Track, der mit Owen Pallets Streicher Arrangements auf dem Heimweg in den Ohren nachhallt. Es ist der Song auf BRONTO, der am meisten nach The Hidden Cameras hochemotionalem Folk-Pop klingt und tatsächlich ein Gruß aus der Vergangenheit: Gibb hat ihn bereits 2007 geschrieben und verwendet die Vocals von damals. BRONTO wird so zu einer dekadenumspannenden Zeitkapsel, auf der Gibb mit seinem jüngeren Ich in Dialog tritt und knapp 25 Jahre später an die Wurzeln von The Hidden Cameras erinnert.