04.06.2021
Walking On Rivers: Time To Lose Control
Es brodelt etwas in diesen sechs Liedern. OK, das ahnt man vielleicht schon, wenn man den Titel „Time To Lose Control“ liest. Aber trotzdem: Waren Walking On Rivers nicht diese melodische Indie-Folk-Band aus Dortmund, die bei so manchem Open-Air den perfekten Song für den Sonnenuntergang parat hatte? Die kaum mehr brauchte, als ihre zugänglichen, hochmelodischen Songs und den weichen Gesang von David Laudage? Was ja schon eine ganze Menge ist – zugegeben, aber trotzdem: Von den ersten Sekunden dieser EP an spürt man, dass bei Walking On Rivers in letzter Zeit eine Menge passiert ist. Das alles schlummert schon im Opener „Overachiever“. Ein schillernd produzierter Song. Hymnisch, getragen – aber mit Wumms. Mäandernd zwischen dem atmosphärischen Gitarrensound, den man mit ihnen verbindet und einem Pop-Glanz, der sich auch in geschmackvollen RadioPlaylists gut macht. David Laudage erklärt die Message des Songs und die Stimmung auf der „Time To Lose Control“-EP so: „Das letzte Jahr war eines, in dem viele aus unserem Umfeld sagten: ‚Is doch alles scheiße mit der Musik, mach‘ doch lieber was Gescheites.‘ Das brachte auch uns als Band zu der Frage: Wo wollen wir eigentlich hin? Die Antwort hat uns gut gefallen. Da war so eine Art trotzige Euphorie, auf die dann eine sehr kreative Phase folgte.“
David (Bassist, Hauptsänger und Songwriter) und seine Mitstreiter Martin Kreuzer (Drums und vieles anderes) und Borsti Pieper (Gitarre, Co-Produktion und vieles anderes) entschieden also, auf jeden Fall und mit aller Energie weiterzumachen und Veränderungen zuzulassen. Und man nutzte die Zeit ohne Tourverpflichtungen im Studio. Mit dem Produzenten Sven Ludwig an ihrer Seite – der zum Beispiel mit OK Kid, Xul Zolar und Lina Maly arbeitete – fanden Walking On Rivers einen Sound, der ihre Roots erkennen lässt und zugleich weit darüber hinausweist. Als Referenzen fallen einem noch immer My Morning Jacket oder City And Colour ein, doch Walking On Rivers passen eher zum neuen Schwung im Indie-Game, der von Acts wie den Giant Rooks befeuert wird.
Die zweite Single-Auskopplung der EP, „Stay In The Box“ zeigt eine weitere Stärke von Walking On Rivers: Der Song ist zugleich eingängig, aber immer ein Stück weit unberechenbar – zum Beispiel, wenn nach dem Anfang, der an den klassischen Spät-Sixties-Folk erinnert, plötzlich ein funky Bass einbricht und ein Vocal-Sampler-Wabern, das eher nach Zukunft klingt. Und, so David: „‘Stay in the Box‘ hat eher eine gesellschaftliche Note für mich. Die meisten Menschen in diesem Land, und wir drei selbst auch, genießen einen gewissen Wohlstand, den wir alle mit unserem Lebensstil zelebrieren. Aber dabei verdrängen wir immer, dass das das eigentlich nur so funktioniert, wenn jeder in seiner kleinen Schublade bleibt, in die er meistens reingeboren wurde. Man weiß das, ist aber halt auch nicht bereit, das aufzubrechen, damit vielleicht einfach mal alle eine gute Zeit haben können.“
Mit dieser EP bringen Walking On Rivers nun zusammen, was gut zusammengehört: Simples, kraftvolles Songwriting, das den Lagerfeuer-Test besteht, als Rückgrat. Texte, die mit wohl gesetzten Worten spannende Gedanken und Gefühle triggern. Die Spielfreude, die man von Walking On Rivers und ihren Konzerten kennt. Und eine neu entdeckte Abenteuerlust, die drauf scheißt, ob man jetzt Pop oder Indie oder Folk oder sonst was ist. Das passende Finale von „Time To Lose Control“ ist schließlich der Titeltrack, dessen Anfang an Kanyes „Runaway“ erinnert, bevor man dann Schicht für Schicht, Coldplay-Style, einen majestätischen Popsong aufbaut, bei dem David Laudage am Ende gegen fette Background-Stimmen und die ganzen Instrumentenklaviatur ansingt: „I’ll take the risk to lose it all.“ Man hört es und denkt schon gleich: Nö, Leute. Mit diesen Songs könnt ihr nur gewinnen.